Wissenswertes2023-02-25T11:33:43+01:00

Nicht mit dem Kopf allein

Manchmal behindern uns scheinbar unsere Emotionen, unsere Werkzeuge sinnvoll einzusetzen.

Nach den Erkenntnissen der neurobiologischen Forschung steckt dahinter allerdings der Mechanismus der Neurozeption, der ganz ohne Bewusstsein anhand verschiedener Anzeichen Gefahren der Umgebung beurteilt. Das wiederum schlägt sich in unterschiedlichen physiologischen Reaktionen nieder. Manchmal möchte man nur noch weg aus der Situation, ein anderes Mal fühlt man sich sprachlos und wie gelähmt oder wir laufen Gefahr durch eine geballte Ladung Wut die Kontrolle zu verlieren. Das bedeutet, dass man in diesem Moment keinen Zugriff mehr auf regulierende Möglichkeiten hat, Denken und Wahrnehmung eingeschränkt sind.

In der Behandlung können Sie den Veränderungsprozessen im Körper nachspüren und das eigene Gewahrwerden schulen. Dabei verändert sich das Sicherheitsempfinden unseres Körpers hin zu mehr Entspannung und Verortung im Hier und Jetzt, was eine Neubewertung der Situation erzeugt. Einfacher gesagt: Hey, hier findet gar kein realer Angriff statt.  Ich sitze nur noch im alten Film!

Zusätzlich kann es im Behandlungsprozess wichtig sein, jenen inneren Anteilen nachzuspüren, die in der Vergangenheit verletzt wurden. Hier darf das noch Ungeklärte behutsam gelöst werden. Somit erreichen Sie, dass diese Gefühle ihre einschränkenden Wirkungen auf Ihr Verhalten verlieren.

Wenn Sie bereit sind, die Sprache Ihres Körpers zu hören, Ihren Gefühle offen zu begegnen und sich selbst zu vertrauen, aktivieren Sie jene Kräfte in sich, die Heilung anregen und verhelfen sich zu mehr Lebensqualität.

Viele Menschen sprechen besonders gut auf diese intuitive, nicht analytische Herangehensweise an.

Zwei Personen strecken die Arme in die Luft

Heilung über den Körper

Auf Grundlage der Polyvagaltheorie lässt sich nochmal auf einfache und klare Weise erklären, dass es sich bei allen psychischen Leiden auch um eine Störung im Autonomen Nervensystem handelt. Die Berücksichtigung dieser Tatsache ist insofern außerordentlich, weil die meisten therapeutischen Ansätze diese grundlegende Annahme nicht teilen, sondern nur von wechselseitigen Beeinflussungen von Körper, Emotionen und Verstand ausgehen.

Die Polyvagaltheorie, wie sie von ihrem Begründer Stephen Porges beschrieben wird,  stellt die Priorität einer gestörten informellen Verarbeitung im ANS als Ursache emotionaler und kognitiver Leiden durch frühzeitige traumatische Fehlentwicklungen in den Vordergrund. Wer als Kind nur wenig Zuwendung und liebevolle Fürsorge erfahren konnte, entwickelt häufig sogenannte Überlebensstrategien, um die Beziehung zu den Eltern zu halten. Der Preis dafür ist das Unterdrücken eigener wichtiger Bedürfnisse. Das ist bis dahin nicht unbedingt neu. Aber dass dieses Abschneiden von den eigenen Bedürfnissen tiefe Spuren im kindlichen Nervensystem hinterlässt und dass sich hier Überlebensmuster festsetzen, die unentdeckt im Erwachsenenalter fortwirken, ist eine noch nicht so weit verbreitete Betrachtungsweise.

Leider passiert meist immer noch Folgendes: Der Patient geht mit seinen Symptomen zum Arzt und dieser behandelt die Symptome. Die Menschen, die  sich an einen Psychotherapeuten wenden, fragen sich, was diese Leiden mit ihrer Lebensweise, ihren Denkmustern oder ihrer Vergangenheit zu tun haben. Dass die Problematik direkt im Körper, infolge einer Fehlsteuerung des ANS, verankert ist, bleibt dabei meist ohne Beachtung. So passiert es, dass in vielen Situationen die gleichen Reaktionsweisen aktiviert werden, weil die Antwort im ANS reflexartig erfolgt und eine bewusste und angemessene Reaktion durch Abwägen und Auswählen verhindert wird.  Man könnte auch sagen, die Großhirnrinde ist zeitweilig nahezu entkoppelt.

Erst wenn diese Vorgänge bewusst werden, indem man sich veranschaulicht, wie genau unser ANS funktioniert, kann dieser Teufelskreis unterbrochen und tatsächlich umgelernt werden. Dabei helfen spezielle Entspannungsmethoden und Achtsamkeitsübungen, indem sie erlebbar machen, welche Veränderungen im Körper bestimmte Emotionen hervorrufen, die wiederum mit bestimmten Gedanken und Vorstellungen verknüpft sind. Spannend!

 

Der etwas andere Therapieprozess

In meiner Arbeit hören Sie ganz häufig eine dieser Fragen: Wie geht es Ihnen in Ihrem Körper? Was spüren Sie in diesem oder jenen Bereich? Was geht gerade in Ihnen vor? Welche Veränderung bemerken Sie jetzt? 

Einige Patienten werden ein wenig brauchen, sich für ihren Körper zu öffnen, andere tauchen leichter in diese Innenschau ein und finden schneller Worte. Warum ist das manchmal so schwer? Die Antwort ist simpel: Wir haben es schlicht verlernt. Im Laufe unserer Entwicklung gab es meist nur wenig Raum für eine liebevolle Hinwendung zu unserem Körper, dieser hatte meistens einfach zu funktionieren. Das hat kulturelle, gesellschaftliche und persönliche Gründe. Dabei ist dieser Körper unser bester und loyalste Freund, den man sich vorstellen kann – denn er wollte immer nur eins – uns beschützen. Er war es, der uns letztlich half, Bedrohliches zu überleben – Gewalt, Demütigung, Zurückweisung, Vernachlässigung. Ein stiller Dank!

Wenn es gelingt, unseren Körper wieder als etwas zu verstehen, dessen Weisheit sich in leisen Tönen zu erkennen gibt, aber ohne dessen Verständnis wir wahre Heilung nicht erfahren können, dann kann dies einen tiefgreifenden Veränderungsprozess in Gang setzen.

Die heute noch prägenden Reaktionen im Körper sind das, womit wir arbeiten. Es ist das, was aus dem Erlebten in der Vergangenheit noch bis heute wirksam und meist bedauerlicherweise auch hinderlich ist. Es bedarf keines Eintauchens in Zurückliegendes, denn aktuelles emotionales Erleben darf sich während der Therapie zunehmend erwachsener Ressourcen bedienen. Der erwachsene Geist beurteilt die eingetretene Situation im Hier und Jetzt und wird sich seiner gereiften Fähigkeiten und machtvollen Möglichkeiten im Vergleich zu Kindheitstagen bewusst und wirkt dadurch auf das reale Geschehen verändernd zurück. So passiert Heilung – im Körper, der über feine Signale ans ANS seine Umgebung als sicher einschätzt, über Gefühle, die als beherrschbar erlebt werden und über den Zugriff auf ein navigierbares geistiges Potenzial.

Wenn irgendetwas von dem, was Sie gerade gelesen haben, in Ihnen nachklingt, weil es etwas mit Ihnen zu tun hat, dann lassen Sie diese Chance nicht ungenutzt. Die Zeit für Veränderung ist immer genau jetzt!

Die Polyvagaltheorie

An dieser Stelle möchte ich einen von mir häufig gebrauchten Begriff und gleichzeitig die darauf aufbauende Theorie als Grundlage meiner eigenen Arbeit näher beleuchten.

Die Polyvagaltheorie beschreibt in der Psychologie ein Modell – entwickelt von dem amerikanischen Psychologen Steven Porges, welches auf evolutionsbiologischer Grundlage erklärt, wie sich prägende Muster, sogenannte Überlebensstrategien in unserem Nervensystem als Folge früh erlebter Verunsicherung durch emotionale oder physische Gewalt ausformen konnten. Dieses Erleben  kann auf tiefer Ebene verunsichern und wirkt sich auf die Ausprägung des Selbstwertgefühls und die Entwicklung der eigenen Identität aus. Um es einfach zu sagen, fehlende Fürsorge und Wohlwollen, sprich fehlende emotionale Sicherheit hinterlässt eine Wunde in unserem Körper, genauer gesagt im ANS (Autonomes Nervensystem). Wie oft haben Sie sich schon vorgenommen, in der Diskussion mit Ihren Kindern, Ihrem Partner, Ihrem Kollegen nicht laut zu werden, einfach nur ruhig zuzuhören? Wie um alles in der Welt passiert es nur, dass Sie dann doch förmlich aus der Haut fahren? Ganz einfach, das uralte System von Flucht- oder Kampf wurde aktiviert, mit der Folge, dass Sie Ihr Gegenüber plötzlich als feindlich und bedrohlich einstufen. Der Kollege, der Ehemann, der Freund mutiert innerhalb von Sekunden zum uneinsichtigen Idioten, zum sturen Bock, zum richtigen A… und was ist mit Ihnen??

Noch komplizierter wird es, wenn uns das Verhalten eines anderen Menschen in einen Zustand regelrechten Erstarrens versetzt. Klingt verrückt? Ist es nicht, sondern beschreibt eine Reaktionsweise, die wir mit Reptilien in Gefahrensituationen teilen. In unserem Stammhirn kommt es dann zu einer reflexartigen Reaktion, die einem Einfrieren oder Abspalten von Emotionen entspricht. War es in Kindheitstagen zu gefährlich, bestimmte Gefühle oder Bedürfnisse zu zeigen, drohten Strafe oder Zwang, war die einzige Möglichkeit für den/ die Betroffene genau diese Regungen abzuspalten und eben nicht mehr wahrzunehmen.

Was erklärt die Polyvagaltheorie nun genau? Sie sagt aus, dass es in Beziehung immer wieder zu einer Reaktivierung von Kindheitsszenarien kommen kann, die auf unbewusste, da nicht verarbeitete Weise alte Überlebensstrategien auslösen. Minimal oder deutlich ändert sich der Zustand im Körper von entspannt – ruhig in wachsam – erregt und macht den Weg frei für eine im schlimmsten Fall emotionale Überflutung. Dass das so schnell funktioniert, erklärt sich durch den musterhaften und damit automatisierten Charakter der im Nervensystem stattfindenden Reaktion. Zu erkennen, dass es sich hier um eine in der Kindheit überlebenswichtige Lösung handelt und es dem Körper dadurch möglich war, das Wesen, den kleinen Menschen dahinter zu beschützen, ist ein erster wichtiger Schritt, durch Containment (sich annehmen und aushalten können) das Vertrauen in die eigene Persönlichkeit wiederherzustellen.

Exkurs: Von der normalen Gewalt

Ich möchte Sie hier für dieses Thema sensibilisieren und bewusster machen, dass es sehr subtile Formen von Gewalt gibt, die manchmal als solche immer noch nicht etikettiert werden. Für ein respektierendes und wertschätzendes Miteinander ist es wichtig, aufmerksam und skeptisch gegenüber häufig noch gesellschaftlich tolerierten, aber dennoch unwürdigen Umgangsformen zu sein und die eigene Sensibilität diesbezüglich zu erhöhen, um genau dort Gewalt zu benennen und damit bewusst zu machen, wo es am wichtigsten ist, nämlich gegenüber Kindern, Kranken, Minderheiten und Andersdenkenden. 

Ich zähle im weiteren Formen von emotionaler Gewalt auf, die in der Entwicklung schlimmstenfalls verhindern, dass wir Vertrauen gegenüber anderen Menschen aufbauen, weil wir das Vertrauen in uns selbst verloren haben. 

Häufig sind wir auch Opfer dieser Gewalt geworden und werden nicht selten selbst Täter, weil es sich so ganz selbstverständlich und schuldlos anfühlt so zu handeln. Lesen Sie selbst: 

Beispiele emotionaler Gewalt: 

  • lautes Anschreien ertragen müssen
  • Beleidigungen
  • Strafen/ Strafandrohungen
  • etwas tun müssen, das man nicht will
  • Abwertungen und Beschämungen
  • Vernachlässigung, gemeint ist das Übergehen von wichtigen Bedürfnissen
  • Bewertungen nach etwas Äußerem 
  • strukturelle Gewalt (Rassismus, Sexismus)
  • Mobbing
  • narzisstische Gewalt

Anhand des letzten Beispiels wird besonders deutlich, wie „normal“ die eine oder andere Bemerkung sich ausspricht: Nun reagier doch nicht gleich über, das war doch gar nicht so gemeint. Oder: Nein, das habe ich nie gesagt. Oder: Das stimmt nicht. Nicht selten wird damit versucht, sich so aus Situationen herauszuwinden, die eigentlich eine aufrichtige Entschuldigung verdient hätten! Stattdessen verunsichern solche Sätze das Gegenüber (vor allem Kinder). Das geht sogar soweit, dass man glaubt, man selbst sei das Problem. 

Dabei ginge es anders. Wir können beginnen, Beziehungen entstehen zu lassen, die Respekt und Freiheit, Toleranz und Empathie als selbstverständliche Werte anerkennen. Wir alle sind gleichwertig und haben das gleiche Recht auf Unversehrtheit und Entwicklung. Ohne Wenn und Aber!

Diese Vorstellung bedeutet Zukunft besser gestalten zu wollen, weil sie die Grundlage für den Frieden auf dieser Welt ist. Sie ist aus meiner Sicht genauso erstrebenswert wie unser Einsatz für den Klimaschutz. Wertschätzende und authentische Kommunikation sind erlernbar und können tagtäglich trainiert werden. Erleben Sie eine neue Art der Verbundenheit, weil Sie wirklich in Kontakt mit Ihren Mitmenschen treten. Erst mit der Bereitschaft wirklich wissen zu wollen, wie es dem Anderen mit mir geht und selbst offen zu sein für einen Prozess, der weder manipulativ noch machtoffensiv wirkt, werden wir erfahren, welchen Wert eine Beziehung für uns hat.

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